Für eine emanzipatorische Sozialpolitik – Für einen ermutigenden Sozialstaat

Sozialpolitik und Sozialstaat stecken in Deutschland in einer mehrfachen Krise: in einer Orientierungskrise, in einer Finanzierungskrise und in einer Vertrauenskrise. Die Symptome dieses für unsere Gesellschaft destabilisierenden Zustandes sind unübersehbar. Exemplarischen Anschauungsunterricht bietet aktuell der „Gesundheitsmurks“ der Bundesregierung. Er schlägt keine der möglichen Reformrichtungen ein, sondern verquickt unverträgliche Konzepte unausgegoren miteinander; er löst nicht einmal mittelfristig die offenen Finanzierungsprobleme; er macht das System nicht effektiver, aber weniger verteilungsgerecht; er weckt nicht Vertrauen, sondern massivste Ängste und Ablehnung. Noch nie ist ein politisches Vorhaben wie dieses, das den Anspruch auf „Reform“ regelrecht verhöhnt, gegen so breiten Widerstand in der Gesellschaft, bei Verbänden, in der Wissenschaft, ja bei den die Regierung tragenden Parteien selbst durchgeprügelt worden.

Bei der Arbeitsmarktpolitik sind die Fehler nicht kleiner. Schon die Hartz-Reformen konnten nur in einem großkoalitionären Kungeln mit der schwarz-gelben Mehrheit des Bundesrates initiiert werden und brachten deshalb kleinere Schritte auf dem Weg zu einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung als wir Grüne wollten; vielmehr wurden etwa bei der zu weit gehenden Anrechnung des Partnereinkommens oder bei der Zumutbarkeitsregel Bestimmungen durchgesetzt, die wir ablehnten und ablehnen. Jetzt allerdings ist die Große Koalition dabei, die versprochene Balance von Fördern und Fordern ganz zu kippen: Fördern wird zum Rinnsal und Fordern zur Schikane. Dagegen gibt es berechtigten Protest. Aber es gibt auch Rückzug, Resignation und Zynismus resultierend aus Existenzängsten, Perspektivlosigkeit und einem Mangel an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Immer mehr Menschen haben den Eindruck, die Regierung höre ihnen nicht mehr zu, sei aber auch nicht in der Lage, zu erklären, was sie treibt.

Für Bündnis 90/Die Grünen ist das eindeutige Bekenntnis zu sozialer Solidarität und zu Gerechtigkeit, das in unserem Grundsatzprogramm das Ziel der emanzipatorischen Sozialpolitik begründet, Teil unserer politischen Kernidentität. Wir treten ein für einen ermutigenden Sozialstaat. Mit unseren Konzepten der Sozialen Grundsicherung und der Bürgerversicherung, mit unserer emanzipativen Frauen und Gleichstellungspolitik, bei der Integrations- und in der Kinderpolitik haben wir eigenständige Reformperspektiven entwickelt, die progressive sozialpolitische Diskussion in den letzten Jahren mit geprägt und gesellschaftliche Bündnismöglichkeiten für gerechte Reformen gefördert. Anders als konservative oder neoliberale Grundsicherungsmodelle, die die Sozialversicherungssysteme bis auf einen Mindestsockel abschmelzen wollen, begreift die Grüne Grundsicherung das gegliederte System der sozialen Sicherung als ein – trotz aller Defizite – anpassungs- und reformfähiges System und fügt ihm einen weiteren Baustein hinzu. Wir werben seit langem nachdrücklich dafür, eine Bildungspolitik, die allen den Zugang eröffnet, die tatsächlich Bildung als Bürgerrecht begreift, als wesentliche Basis für soziale Gerechtigkeit und vor allem als unverzichtbare Anstrengung gegen Ausgrenzung und die sich verfestigende Armut zu verstehen, und haben dies konzeptionell klar untermauert.

Aber auch für uns ist die mehrfache Krise von Sozialpolitik und Sozialstaat eine ernst zu nehmende Herausforderung. Kritisch und durchaus auch selbstkritisch wollen wir uns dieser Diskussion stellen. Der Zukunftskongress im September 2006 war schon ein erster Höhepunkt dieser notwendigen Diskussion, und er zeigte, wie wichtig und lebendig diese Debatte bei uns Grünen ist. Das Spektrum der sozialpolitischen Themen beim Zukunftskongress war außerordentlich breit, aber es gab auch einen eindeutigen Schwerpunkt. Mit der Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle kam ein alter grüner Diskussionsansatz wieder zum Vorschein, von dem wir uns programmatisch 1997 und dann erneut im Grundsatzprogramm 2002 verabschiedet hatten. Öffentlich hat die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens gegenwärtig eine wachsende Resonanz, nicht nur im grünen Umfeld. Mit Dieter Althaus hat sich sogar ein ostdeutscher CDU-Ministerpräsident solche Überlegungen zu eigen gemacht. Es gibt aber auch erhebliche Einwände gegen diese Richtung, auch diese von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums.

Wir wollen diese Diskussion aufgreifen und verschiedene Konzepte zur Grundsicherung und zum bedingungslosen Grundeinkommen grundlegend und vorurteilsfrei prüfen, durchrechnen und der kommenden BDK Alternativen zur Abstimmung vorlegen. Nicht weil wir in Grundeinkommenskonzepten ein Allheilmittel sähen. Aber wir wollen prüfen, ob und gegebenenfalls was solche Ansätze zur Lösung der sozialpolitischen Probleme einer postindustriellen, offenen und demokratischen Gesellschaft beitragen können. Gleichzeitig wollen wir diskutieren, wie die Perspektive einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung weiterentwickelt werden kann, welche Bedeutung der ungehinderte Zugang zu öffentlichen Gütern hat, welche Rolle die Zivilgesellschaft zu spielen hat, wie Geschlechtergerechtigkeit zu gewährleisten ist, wie von der Seite des Steuersystems her der Sozialstaat gesichert werden muss und wie die öffentlichen Haushalte konsolidiert werden können.

Der Bundesvorstand wird daher beauftragt, eine repräsentativ zusammen gesetzte Kommission zur Zukunft der sozialen Sicherung sowie ihrer gerechten und nachhaltigen Finanzierung einzurichten, die für die BDK 2007 abstimmungsfähige Entscheidungsalternativen vorlegen und über das Jahr die entsprechende Diskussion in der Partei breit organisieren (auch mit Hilfe des Internets) und fördern soll.

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